Freiheit und Bequemlichkeit

Ein Essay von Michael Stehmann

Verschmähte Freiheit

Nach vergeblichen Mühen in ihrer Überzeugungsarbeit kommt den Freunden Freier Software manchmal ein trüber Gedanke:

Früher waren die Menschen bereit, für die Freiheit ihr Leben einzusetzen, heute sind sie nicht einmal bereit, dafür ihre Bequemlichkeit aufzugeben.

Positiv formuliert lautet die klare Ansage: Freiheit ist anstrengend!

Dies ist auch leicht begründbar: Freiheit erfordert, dass man sich informiert, eigene Entscheidungen trifft und anschließend auch noch die Verantwortung für diese Entscheidungen übernimmt. Und das alles mit dem Risiko, dass man hinterher feststellen muss, sich trotz besten Wissens und Gewissens falsch entschieden zu haben.

Dennoch nehmen viele Menschen die Mühen und Risiken von Freiheit und Selbstverantwortung auf sich und verteidigen ihre Freiheit mit kühlem Kopf und manchmal auch mit heißem Herzen.

Wenn aber die selben Menschen Freier Software wenig abgewinnen können und ihre schönen und bequemen proprietären Programme trotz bekannten "Risiken und Nebenwirkungen" loben, dann kommen den Freunden Freier Software manchmal trübe Gedanken.

Das große Versprechen

Woher kommt diese scheinbar widersprüchliche Einstellung?

Ich denke, man muss sich zunächst klarmachen, dass Computer, angefangen vom einfachen Taschenrechner, mit einem großen Versprechen angetreten sind und den Alltag der Menschen erobert haben: Dem Versprechen der Bequemlichkeit. Dabei ist die elektronische Datenverarbeitung typisch für Technik. Alle Techniken sind mit dem Versprechen angetreten, es den Menschen einfacher, sicherer und bequemer zu machen und sei es auch nur bei der Aufgabe, seine Mitmenschen umzubringen.

Manchmal lösen Computer dieses Versprechen auch ein: 55,60 mal 1,19 zu rechnen ist mit einem elektronischen Helferlein viel einfacher, als mit der Hand oder gar im Kopf. Eine Textverarbeitung hat Vorzüge gegenüber einer Schreibmaschine, wo das Einfügen eines Absatzes eventuell das Abtippen der Seite, auf der er eingefügt werden soll, und aller folgenden Seiten erfordert. Wikipedia ist bequemer als ein Lexikon in Buchform und kann im Gegensatz zu einen vielbändigen Lexikon auch unterwegs befragt werden, sofern man Zugang zu der hierfür notwendigen Infrastruktur hat. Reader sind leichter zu tragen als ein Regalmeter Bücher. Diese Beispiele lassen sich unschwer ergänzen.

Der Computer wird als universelles Werkzeug angepriesen. Daher nehmen die Leute an, er könne alles. Allerdings kann ein Computer nichts ohne Software.

In der Anfangszeit waren Computernutzer und Softwareentwickler im Wesentlichen derselbe Personenkreis. Dort, wo die ersten Computer eingesetzt wurden, entwickelte man die benötigten Programme selber oder war zumindest an deren Entwicklung beteiligt. Das änderte sich mit dem Aufkommen sogenannter Standardsoftware dramatisch. Diese Programme wurden von Menschen, die sie oft nicht selbst einsetzten, für eine unbestimmte Vielzahl von Anwendern entwickelt. Software wurde Ware und Menschen zum Kauf derselben mit dem Versprechen animiert, mit ihr könne man sehr viele Aufgaben leicht und bequem erledigen.

Die Einlösung dieses Versprechens erwarten nun viele von den "Experten".

Der Chauvinismus der Magier

Expertentum verleiht Macht, und Macht ist verführerisch.

Die als "Computerexperten" Angesehenen gewinnen ihren betrieblichen und gesellschaftlichen Status dadurch, dass ihr Tun als undurchschaubar gilt. Für den "einfachen Nutzer" ist ihr Umgang mit den doch ziemlich komplexen Systemen von Magie kaum noch zu unterscheiden.

Bewusst oder unbewusst unternehmen diese Experten manches, um den Glanz dieses Ansehen zu bewahren und sich weiterhin hierin sonnen zu können.

Manche sind auch um des Geldes wegen daran interessiert, den Zustand der Unentbehrlichkeit zu erlangen und möglichst lange aufrechtzuerhalten.

Die Art und Weise, wie der Stand der IT-Experten seine Exklusivität wahrt, ist eigentlich uralt. Eines ihrer Mittel ist Esoterik.

Die "Magier" benutzen eine zwar präzise, aber nicht allgemeinverständliche Sprache mit Ausdrücken, deren Sinn und Inhalt nur von "Eingeweihten" erfasst werden.

Die gesellschaftliche und politische Relevanz allgemeiner Kenntnisse darüber, wozu IT-Systeme im Stande sind, wird zwar akzeptiert, die "Volksbildung" aber nicht als eigene Aufgabe angesehen. Nicht einmal um das Verständnis der eigenen Software wird sich immer ernsthaft bemüht, was sich am erbärmlichen Zustand mancher Dokumentationen zeigt.

Gepaart ist dies oft mit einer gewissen Arroganz gegenüber den sogenannten "DAUs", deren Ignoranz als selbstverschuldet angesehen wird.

Man ist stolz darauf, Systeme, wie beispielsweise die Shell, deren Beherrschung einen gewissen Lernaufwand erfordern, scheinbar mühelos bedienen zu können, und blickt auf die herab, die sich diesen Mühen nicht unterziehen wollen oder können. "RTFM" und "Works for me" sind oft Ausdruck dieser Haltung.

Allerdings gibt es hier auch oft Missverständnisse: Der Laie erwartet vom Fachmann eine Lösung seines Problems; dieser will ihn mit dem Hinweis auf die Dokumentation jedoch in die Lage versetzen, das Problem selbst zu lösen. Und manche Meldung eines vermeintlichen Fehlers beruht auf einer Unkenntnis des Funktionsgefüges der Software, von dem allerdings manchmal der Entwickler zu unrecht annimmt, es sei selbstverständlich.

Das beschriebene Verhalten der Experten hat natürlich auch Rückwirkungen auf die Einstellung der "normalen" Nutzer, vor allem auch auf deren Lernbereitschaft. Die derart ausgegrenzten DAUs resignieren nicht nur, sondern entwickeln sogar einen gewissen Stolz auf ihre Ignoranz und sehen ihrerseits auf den Geek und Nerd (lediglich einseitig interessiert und -gebildet, nur ein Thema kennend, mit dem man daher kein normales Gespräch führen kann) herab.

Wie kann das Volk, also gerade auch der "normale" Nutzer, die digitale Souveränität (wieder-)erlangen?

Das Resultat der genannten Umstände ist, dass viele Menschen von Computern, die einfach vorhanden sein und funktionieren sollen, im Detail nichts wissen wollen. Es handelt sich tatsächlich dann um eine selbstgewollte Unmündigkeit.

Die "Magier" werden wohl in Vorleistung gehen müssen.

Vorrangig ist hier das Bemühen um eine allgemeinverständliche Sprache beim Umgang mit Lernwilligen. Und Geduld. Und Respekt. Und Engagement.

Die "normalen" Nutzer wiederum müssen akzeptieren, dass Freiheit und Souveränität anstrengend und mühsam sind. Ohne Lernbereitschaft geht es nicht!

Wer nicht programmieren lernen will (um ein Beispiel zu nennen), wird programmiert werden. Er muss dann damit klar kommen, was andere ihm an IT-Systemen vorsetzen, ohne dass er auch nur eine gewisse Ahnung davon hat, wie seine alltäglichen Werkzeuge funktionieren. Er ist ohne den Willen, sie begreifen zu wollen, von der Gestaltung seines Alltags in wesentlichen Belangen ausgeschlossen.

Das Verhältnis von Nerds und DAUs muss sich im digitalen Zeitalter zum Wohle aller gründlich ändern.

Stefan Betschon führt in der NZZ zutreffend aus, wer eine Technik wolle, die möglichst vielen Menschen nützlich ist, sollte auch möglichst viele Menschen an der Weiterentwicklung dieser Technik beteiligen. Er meint, um das Gespräch zwischen den Usern und den Technik-Experten im Fluss zu halten, bräuchte es Technikjournalisten. Diese müssen aber willens und in der Lage sein, aufklärerisch zu wirken. Hierzu merkt er an, dass Informatik zwar alle Bereiche des menschlichen Lebens und Zusammenlebens präge, aber in der Medienrealität eine Randerscheinung sei. Von dort kann man also realistischerweise wenig Hilfe für den Dialog zwischen Nutzer und Experten erwarten.

Da IT-Systeme nicht nur den Alltag des Einzelnen, sondern auch die soziale, kulturelle und wissenschaftliche Entwicklung der Menschheit prägen, müssen in einer freiheitlichen Demokratie alle in die Lage versetzt werden, diese Entwicklung mitzugestalten.

Mit Freier Software können Menschen ihre Kreativität auch im Computerzeitalter ohne Einschränkungen ausleben und werden in die Lage versetzt, das sogenannte "Neuland" mitzugestalten.

Digitale Souveränität betrifft jedoch nicht nur den Einzelnen; sie ist auch von strategischer Bedeutung für Betriebe und Verwaltungen.

Mit Freier Software und offenen Standards kann die digitale Souveränität wiedererlangt werden; auch wenn dies anfänglich etwas unbequem ist, es zahlt sich am Ende aus.